Ihingen bei Weil der Stadt, der 6. April 1858

Lieber Freund!

Deinen im Dezember abgegangenen Brief erhielt ich durch Gott weiß welche Verspätung zu Anfang des vorigen Monats, übrigens hat es mich außerordentlich gefreut, wieder nach so langer Zeit von Dir zu hören, hauptsächlich dass Du glücklich und zufrieden lebst, denn außer den Notizen in den hippologischen Zeitschriften, wo ich hier und da unter den Engagements zu Rennen deinen Namen finde, habe ich seit langer Zeit nichts von Dir gehört. Ich lebe aber so ziemlich als Einsiedler, indem ich mich nun seit 8 Jahren beständig auf dem Lande aufhalte, meinen Acker bestelle, Ochsen mäste, Schafe züchte etc., in neuerer Zeit bin ich auch Zuckerfabrikant geworden, indem ich bei der Verwaltung einer größeren   Unleserliche Stelle [...] Zuckerfabrik in meiner Nähe, der ich einen Teil ihrer Rüben brenne, beteiligt bin.

In den ersten Jahren hätte ich die Landwirtschaft und   Unleserliche Stelle [...] über das Leben in einer Gegend, wo sich wenig Nachbarschaft und Amüsement findet, gern wieder verlassen, jetzt aber habe ich mich daran gewöhnt, und da man doch nicht durchs ganze Leben bummeln kann, will ich auch bei dieser Beschäftigung bleiben. Sonst hat sich in meinen Verhältnissen nichts verändert, ich bin   Unleserliche Stelle [...] nächstens ein alter Hagestolz, und sehe mich zuweilen veranlasst durch Spritztouren nach Paris oder sonstwo aus Hypochondrie und Langweile mich gewaltsam herauszureißen. Es wird mir darum recht lieb sein, wenn Du mir künftigen Sommer ein Rendezvous auf einige Tage in München geben willst, ich würde mich unendlich freuen, Dich wiederzusehen.

Was die in deinem Brief berührten 70 Tlr. oder Gulden betrift, so besitze ich darüber zwar keine Notizen, glaube aber, dass es Taler waren. Wo die Sache herrührt, weiß ich nicht mehr genau, jedoch erinnere ich mich, dass wir in Geldabrechnung standen und einmal in Frankfurt zusammen ein Anlehn bei 
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H. v. Bethmann
machten, dass ich demselben nachher durch einen Stuttgarter Bankier wieder ersetzen ließ.

Nun mein lieber alter Freund lebe herzlich wohl; empfiehl mich Deiner Frau Gemahlin, und lass mich auch wieder von Dir hören.

Mit alter Freundschaft der Deinige

Vischer

Zitierhinweis

Gustav von Vischer-Ihingen an Carl Meinhard Graf von Lehndorff. Ihingen bei Weil, 6. April 1858. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail.xql?id=lehndorff_dbk_ysj_h3b