Drengfurt, den 3. Februar 1879

Hochverehrte Frau Gräfin!

Gottes Gnade sei mit Ihnen und die Sonne der Gerechtigkeit leuchte in der Ferne über und in Ihnen!

Über die Hauskollekte hätte ich längst berichtet, wenn sie nur erst eingegangen wäre. Im November, wo sie hätte sein sollen, waren die Wege grundlos, so dass gar nicht kollektiert werden konnte. Im Dezember wurde die Hauskollekte für die dringendsten Notstände der evangelischen Kirche abgehalten, da wollten wir die unsrige nicht unmittelbar darauf folgen lassen in der Besorgnis, es könnte dann zu wenig eingehen. Im Januar ist sie zum Teil gesammelt, aber noch nicht ganz. Einen besonderen Kollektanten gegen Entschädigung umhergehen zu lassen ist zu teuer, wir haben sämtliche 8 Lehrer um die Einsammlung ersucht, aber von zweien ist uns erst die Kollekte abgeliefert. Dieses Mal tun sie es uns noch zum Gefallen, aber künftig nicht mehr, indem sie sagen, das Geschäft sei zu verdrießlich, sie müssten zu viel anhören. Es zeigt sich allerdings keine besonders wohlwollende Stimmung gegen das Waisenhaus, man hält sich darüber auf, dass immerfort gesammelt wird, während Waisenmädchen nicht vorhanden sind und das Haus leer bleibt. Man hat daher immer zu beschwichtigen mit der Erklärung, dass durch die eingebrachten Gaben besonders auch die zukünftige Selbständigkeit des Waisenhauses begründet werden soll. Dazu kommt die gegenwärtige Kalamität in Handel und Wandel, die Ernte war nicht sonderlich, die Getreidepreise sind äußerst niedrig, der Landmann ist überbürdet mit Abgaben, Handwerker und Arbeiter haben keine Arbeit. Es ist eine Not, ein Klagen und Jammern unter den Leuten, wie selbst im Notjahr nicht. Ich verspreche mir daher von unserer Kollekte äußerst wenig, wie sich das auch schon zeigt. Sobald sie jedoch zusammen ist, werde ich über den Ertrag berichten.

Die von mir im Herbst gesammelten 300 M habe ich schon am 1. Dezember untergebracht, indem ich sie an einen wohlhabenden Bekannten gegen 5 Proz. Zinsen auf ein Jahr leihweise ausgegeben habe, bei dem sie durchaus sicher sind, und der, wenn es gerade nötig werden sollte, sie auch früher wieder zurückzahlen kann. - Mag das dann so bleiben. Verlust ist nicht zu befürchten.

Außerdem sind noch 80 Mark aus derselben Sammlung eingegangen. Davon habe ich der Frau Lamprecht gegeben: für Setzung des Ofens in der vermieteten Stube 20 M 55 Pf., dazu Herrn Hegemeister Walter Feuerkassengelder pro 29. Dez. 1879 bis dato 1879 9 M, so dass noch übrig sind: 50 M 45 Pf., welche der Frau Lamprecht zur Disposition stehen.

Möglicherweise kann noch mehr eingehen, bis jetzt hat es noch immer getröpfelt.

Wenn die Rechnung pro 1878 durchaus abgeschlossen werden soll, so ist ja kein Hindernis da. Die Hauskollekte kann in die Jahresrechnung pro 1879 aufgenommen werden. Dagegen bitte ich die benannten 380 M in die Einnahmen pro 1878 zu setzen, sowie die ausgegebenen 29 M 55 Pf. in die Ausgabe und dann damit abzuschließen.

Dass die  Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_Marienthal.
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Marienthaler Waisen-Verpflegungsgelder
noch nicht eingezahlt sind, liegt lediglich an der Saumseligkeit des neu gewählten Schulzen. Der Mann lässt alles liegen und tut für sein Amt gar nichts, es sei denn durch Zwang. Der vorige Schulze war viel pünktlicher. An den jetzigen habe ich schon viermal geschrieben und aufs ernstlichste moniert, aber umsonst. Die Sozietät ist so arm nicht, dass sie nicht zahlen könnte, weigert sich auch nicht, es liegt eben nur am Schulzen, der das Geld nicht einzieht. Bekommen werden wir es schon.

Für Ihre gnädige Gabe von 15 M an die Armen zu Weihnachten sage ich im Namen derselben herzlichsten Dank. Wir haben noch 40 M zugelegt und damit 75 Arme bei einer kleinen Weihnachtsfeier beschenkt, außerdem noch 15 Scheffel Kartoffeln und 2 Scheffel Erbsen, welche eingegangen waren, verteilt

Der „Jonas‟ oder „Schule des Lebens‟ von Funk, welchen Sie so freundlich waren, mir als Weihnachtsgabe zu schenken, wofür ich innigst danke, hat mich ungemein erbaut.  Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_Funk.
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Das nenne ich doch noch in der Schrift forschen und aus dem Reichtum der Schrift schöpfen!
Man sieht, wie der Herr auch in den schlimmsten Zeiten sich seine Leute erweckt und dadurch seinen heiligen Geist geschickt macht, mit tüchtigen Waffen für seine Kirche zu kämpfen oder mit ihren Gaben Herzen für ihn zu gewinnen. Unter den gebildeten Ständen herrscht eine entsetzliche Unwissenheit in der Schrift, von deren Erhabenheit und göttlichen Schätzen sie keine Ahnung haben. Aber es ist Selbstverschuldung, denn sie wollen blind sein, weil Luzifer sie mit seinem falschen Licht geblendet hat.

Verdenken Sie es mir nicht, hochverehrte Frau Gräfin, wenn ich nicht immer gleich antworte, und deshalb manchmal sogar unbescheiden erscheinen muss. Mir tut das leid, ich kann es aber nicht ändern, denn meine amtliche Arbeitslast ist zu groß.

Dem Schutze des Allmächtigen Sie empfehlend, bleibe ich ehrerbietigst

Ihr gehorsamster

Westphal, Pfarrer

Zitierhinweis

Gustav Peter Westphal an Anna Gräfin von Lehndorff. Drengfurt, 3. Februar 1879. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail.xql?id=lehndorff_hpr_z4n_jdb