Petersburg, den 15./27. September 1880

Liebe Tante

Seit drei Tagen bin ich also wieder im lieben Vaterland, welches mich, ich muss es gestehen, sehr gut aufgenommen hat; der Rektor und alle Vorgesetzten waren durchaus nicht böse über meinen etwas zu langen Aufenthalt im Ausland, und es tut mir eigentlich sehr leid, dass ich nicht noch ein paar Tage in dem lieben Steinort geblieben bin. Die Reise war etwas umständlicher als ich dachte, denn ich musste 4 mal umsteigen, da sogar in Insterburg kein direktes Billet nach Petersburg zu bekommen war, aber im Ganzen ist es doch sehr nah (nicht ganz 30 Stunden von Rastenburg aus), und ich denke schon wieder sehr daran, ob ich wohl bald die reizenden Tage, die ich in Steinort verbracht habe, wiederholen werde, und da Du mich so gütig dazu aufgefordert hast, meinen Besuch wiederholen können werde. Ich danke Dir noch einmal für die Güte und Liebe, mit der Du mich behandelt hast et pour lequelle je suis trés sensible, nur Du vielleicht nicht gemerkt hast, weil ich ein bisschen still und wenig ostentativ bin. Merkwürdigerweise haben wir hier ganz wunderschönes und warmes Wetter und das ist wenigstens etwas. Denn so oft würde ich, glaube ich, melancholisch, denn ein gewisser moralischer Katzenjammer bleibt ja doch nie nach dem Urlaub aus. Den jungen   Unleserliche Stelle [...], von dem Du mir gesprochen hast, habe ich gleich den zweiten Tag nach meiner Ankunft hier begegnet; ich habe mündlich mit ihm bei Stumm(?) gegessen und wir haben gleich sehr viel von allem gesprochen.

Gestern habe ich mir die Räume in Zarskoe Selo angesehen, die übrigens nicht sehr interessant waren, aber wo es Pferde gibt, da muss auch ich sein. Bis jetzt ist noch recht wenig hier zu tun und man sitzt so den halben Tag in den Hörsälen herum und wartet auf die Herren Professoren, die meistens nicht kommen, und abends weiß man oft nicht, was anfangen, denn es ist noch keine Seele in Petersburg; das wenige, was zu tun und was ich auch die Absicht habe zu tun, ist furchtbar fleißig zu studieren, und dann wird die Zeit schon so nach und nach vergehen. Von   Textverlust [...] habe ich bereits schon einen Brief hier gefunden und weiß nun, dass mein junger Neffe Clemens heißt und dass er von blendender Schönheit und sehr dick sein soll.

Für heute sage ich Dir lebe wohl, liebe Tante, und küsse Dir noch einmal dankbar die Hand. Viele Grüße an den Onkel.

Dein braver Neffe

Iwan, der oft und viel an Dich denkt

Zitierhinweis

Iwan von Hahn an Anna Gräfin von Lehndorff, Petersburg, 15./27. September 1880. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail.xql?id=lehndorff_vkq_nvv_2db