Steinort d. 23. Januar

Exzellenz!

in der verflossenen Nacht von Dienstag zu Mittwoch hat Georg mit Schober, ohne einer anderen Person ein Wort zu sagen, Steinort verlassen, ist nach Rastenburg gefahren und hat sich hier von Schober getrennt, um sich nach Königsberg zu begeben. Über die Veranlassung zu dieser plötzlichen Reise hat er, so viel bekannt, sich nicht geäußert. Man erzählt, dass mehrere Briefe von Ew. Exzellenz, die gestern nachmittag zu ihm gelangten, ihn mehr als gewöhnlich erschüttert hätten. Ich glaube jedoch, dass er sich aus Trägheit von hier entfernt hat, um vielleicht persönlich Ew. Exzellenz zu Schritten zu überreden, die mehr seiner Scheu vor der Arbeit, als seinem Lebensglück konvenieren. Nach seinem eigenen Geständnis hat es seit den Weihnachtsferien noch keine Stunde gegeben, zu der er seine Schuldigkeit getan hat, so dass mir gestern nichts übrig blieb, als ihm selbst die Bestimmung zu überlassen, wie viel er zu heute lernen wolle, und von ihm sein Wort zu verlangen, dass er heute das von ihm sich selbst auferlegte Pensum wissen werde. Doch nicht lange nach diesem Gespräch muss er den Entschluss zu Reise gefasst haben, da auch unmittelbar darauf Ew. Exzellenz Briefe eintrafen. Für morgen hatten wir - einer Einladung gemäß - einen Ausflug nach Waldburg verabredet.

Ich fürchte - wie gesagt - dass Georg, voll Widerwillen gegen die Arbeit, missmutig über die Strenge, mit der ich ihn halten muss, und hauptsächlich gleichgültig gegen sein ferneres Fortkommen, darauf verzichtet hat, nach Prima zu kommen, und nun wenigstens die noch fehlende Zeit bis Ostern auf der faulen Haut zubringen will. Ungeachtet seiner Trägheit außerhalb der Stunden habe ich doch noch Aussicht, das Ziel zu erreichen, da ich den Schwerpunkt des Unterrichts in die Schulstunden selbst gelegt habe. Pflichtgemäß teile ich dieses Ew. Exzellenz mit, damit Ew. Exzellenz nicht etwa auf irrige Nachrichten einen Entschluss fassen, zu dem nichts drängt als die Bequemlichkeit Ihres Sohnes, sondern damit Ew. Exzellenz im Stande sind, mit reiflicher Erwägung im Gefühl der Vaterpflicht und mit der Strenge des Vaters zu handeln. Georg ist in der Lage, dass er zu seinem eigenen Besten gezwungen werden muss, und sollte es ihm noch so bitter sein.

Demgemäß erwarte ich, dass Ew. Exzellenz Georg sofort nach Steinort zurückschicken werden, nachdem Sie ihn dieses unbesonnenen Schrittes wegen aufs Ernstlichste zur Rede gestellt haben; denn da dieser Schritt zu des Vaters Kenntnis gekommen ist, halte ich es nicht mehr für angemessen, noch meinerseits darüber ein Wort Georg gegenüber zu verlieren. Sollte innerhalb der Zeit, in welcher eine Antwort auf diesen Brief eintreffen kann, keine erscheinen, so nehme ich an, dass Ew. Exzellenz den mir erteilten, von mir unter stetem Ärger und unwandelbarere Treue ausgeführten Auftrag als erloschen betrachten, und ich kurz vor Abschluss der Arbeit dieselbe als vernichtet anzusehen habe. Ich würde in diesem Falle Steinort sofort verlassen, um mich nach Tarputschen zu begeben.

Ich brauche nicht hinzuzufügen, mit welchen schmerzlichen Gefühlen ich dieses Ereignis, welches auf mich umso gewaltiger wirkt, je energischer ich entschlossen war, trotz aller Hindernisse mit Georg meine Absichten zu erreichen, Ew. Exzellenz berichte. Je schwieriger die mir gestellte Aufgabe war, desto mehr wuchs mein Interesse an ihr und mein Eifer zu ihrer Lösung. Mit dem Gefühl der tiefsten Wehmut sehe ich nun, da kurz vor dem Ziel alle meine Hoffnungen zertrümmert werden, dass ich einer Chimäre zwei Jahre meines Lebens und meine besten Kräfte geopfert habe, dass ich umsonst all den Kummer und Verdruss getragen, und namentlich in der letzten Zeit unter fortwährender Kränklichkeit eine mich aufreibende Arbeit willig mir selbst aufgelegt habe. Es ist sehr bitter, dass ich solches erleben muss.

Ich habe die Ehre, mich zu zeichnen Ew. Exzellenz untertänigster

K. Neumann

Zitierhinweis

K. Neumann an Carl Friedrich Ludwig Graf von Lehndorff. Steinort, 23. Januar 1850. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail.xql?id=lehndorff_xlv_z5x_43b