Trebnitz, den 28. Oktober 1840

Nach einer sehr bewegten Zeit, die mich bei meiner Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten und bei dem Vertrauen, was ich in Preußen besonders genieße, vorzugsweise in Anspruch genommen hat, bin ich gleich nach den Berliner Huldigungsfeierlichkeiten (bei denen ich als hiesiger Gutsbesitzer und Landstand umso weniger fehlen durfte, als ich in Königsberg mithandelnd aufgetreten war, und also auch hier der Intrige und dem Hofwesen mit freier Stirn entgegentreten musste) den 21. Oktober in den hiesigen Hafen der Ruhe eingelaufen, wo ich so lange wie möglich verweilen will, bis mich die noch immer fortdauernde Sorge für  die 1828 geborene Tochter Brünnecks
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Luischens
Unterricht wieder ganz gegen meine Neigung nach Berlin treiben wird, so gerne wie ich dies auch in diesem so schlechten Jahre, wie ich hier noch keins erlebt habe, und nach so vielen und bedeutenden unvermeidlich gewesenen Mehrausgaben ganz vermeiden möchte.

Hier wollte ich nun die ersten ganz ruhigen Stunden zur Beantwortung der nach langer Zeit von Dir empfangenen beiden Briefe vom 10. August und 5. September verwenden, welche mir beide kurz hintereinander während des kurzen vielbeschäftigten Aufenthaltes in Bellschwitz nach der Königsberger Huldigung zugekommen waren, wozu ich dort nicht mehr kommen konnte. Dazu ist mir nun gestern dein dritter Teil vom 10.-12. d. M. geworden, aus dem ich zu meiner Freude ersehe,  Siegfried von Brünneck war auf der Rückreise aus Italien, wo er sich längere Zeit aufgehalten hatte.
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dass Du mir nun schon einige Meilen nähergerückt bist
und mit Teilnahme die wichtigsten vaterländischen Ereignisse verfolgt hast, von diesen ziemlich genau unterrichtet bist, und selbige aus dem, was Dir bekannt geworden, vollkommen richtig und meiner Ansicht völlig entsprechend und daher in einer mich überraschenden Weise aufgefasst hast. Es ist Dir dabei gerade Deine große Entfernung zustatten gekommen, die Dir eine völlig ruhige Auffassung möglich machte und Dich vor dem Einfluss einzelner ergreifender Momente, wie der Rede des Königs in Königsberg, die alle Welt, z. B. auch  Jugendfreund Siegfried von Brünnecks
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den Rudolf Keudell
, elektrisierte und enthusiasmierte, bewahrt hat. Da ich nun einmal durch schöne Redensarten nicht leicht zu enthusiasmieren bin, so verrauchte auch mein augenblicklich erregter Enthusiasmus immer wieder sehr schnell. Wenigstens trübte er mir nie den klaren Blick, der noch immer auf entscheidende Tatsachen wartet, aus denen sich auf die vor allem nötige Energie des Charakters, auf ein klareres Erkennen seiner Zeit, auf ein entschiedeneres Betreten der Bahn des Fortschritts und auf männliche Besiegung entgegengesetzten Einflusses schließen ließe. In Königsberg gab es allerdings Momente, wo der König mit seinem edlen Willen und seinen herrlichen Geistesgaben unter Entwicklung der Gabe der freien Rede, wie sie vielleicht noch nie ein Fürst in dem Grade besessen hat, aus eigener Urteils- und Willenskraft der Intrige gegen den Landtag und des nachteiligen Einflusses seiner nächsten Umgebung Herr zu werden schien, und in diesen Momenten wurden ungeachtet der unverkennbaren Klarheit in der Weltanschauung auch meine Hoffnungen sehr, beinahe zum Enthusiasmus gesteigert, und konnte man mit Wahrscheinlichkeit voraussetzen, dass so ausgezeichnete Geisteseigenschaften in Vereinigung mit überwiegender edelster Gemütlichkeit sich zur Klarheit durcharbeiten würden. Aber offenbar hatten dort die Ereignisse, der unerwartete Antrag des Landtages, der ungemein feierliche Akt der Huldigung, die Neuheit desselben, der ernste, würdige und männliche Ausdruck der Treue ohne Servilität und die dortige ganz ruhige und gemessene und doch dabei freudige Haltung des Volks den Impuls gegeben und Schöns überwiegende Eigenschaft zum Stützpunkt gedient.

Seit der Rückkehr nach Berlin, wo man wieder herunterzieht, was in Königsberg gehoben worden ist, ist aber wieder vieles zweifelhaft geworden. Dort ist es gelungen, den König wieder wankend zu machen und Schön und uns Preußen, besonders die als Koryphäen des Landtags Bezeichneten, zu denen auch ich gehören dürfte, wenn auch vielleicht noch nicht beim König, so doch bei allen anderen arg zu verketzern als solche Leute, welche sich gegen die Einrichtungen von Gott auflehnen. Denn neben der Neigung, die Du richtig aufgefasst hast, sich wie Humboldt sagt (der sich übrigens immer mit vieler Teilnahme nach Dich erkundigt) ein kleines Mittelalter zu bilden,  Er hatte in seiner einflussreichen Stellung als Erzieher und später im Außenministerium einen starken Einfluss auf den Kronprinzen ausgeübt.
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liegt auch noch die Gefahr in der vorherrschenden Bigotterie, in den überall durchscheinenden theokratischen Prinzipien, wie solche beide Richtungen durch Ancillon hervorgerufen und genährt worden sind
, und was bei der vorherrschenden Ausbildung der gemütlichen Seite umso weniger befremden kann, als die nächsten Umgebungen mehr oder weniger dem Pietismus hingegeben sind. Unverkennbar ist auch schon manches Gute geschehen, und sind einzelne erfreuliche Tatsachen aus eigener Entschließung, vielleicht nicht ohne Kampf, hervorgegangen, wie jetzt die Ernennung von Boyen zum aktiven General, und   Jacob und Wilhelm Grimm wurden 1841 nach Berlin berufen.
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die Berufung einiger der Göttinger Professoren
auf Humboldts Vorschlag. Aber es ist darauf nicht viel zu geben. Vielmehr kommt es noch auf deren weitere Ausdehnung an. Diese einzelnen Tatsachen scheinen oft nur Aufwallungen des edlen Gemütes, zuweilen auch für die Popularität berechnet zu sein, und es wird sich bald zeigen müssen, ob wirklich die Energie vorhanden ist, sich über alle Parteien zu stellen und zu erhalten, oder ob ein Schwanken von einer Partei zur anderen, die aus Berechnung bald der einen bald der anderen Konzessionen machende Politik das leitende Motiv ist.

Mit der Wahl von Eichhorn zum Kultusminister würde man zufrieden sein können, wenn ihm andere Minister zur Seite ständen und ihm die für diese Gesellschaft wohl nötige Energie des Charakters beiwohnte. Er ist ein umsichtsvoller gebildeter und rechtschaffener Mann, soll dabei aber schwach und zaghaft sein, und scheint daher nicht seinen Kollegen und den Intrigen der Jesuiten jeder Art gewachsen.

Auch in Berlin herrscht darüber nur eine Stimme, dass alle die es mit dem König wohl meinen, die Entfernung von Rochow wünschen müssten, und dass diese ein sicheres Kriterium für die Zukunft sein werde, wogegen die Berufung des Generals Thile I zum vortragenden Kabinettsminister in des Grafen Lotttum Stelle, eines rechtschaffenen, aber in religiöser Beziehung sehr beschränkten und einseitigen Mannes, neue Besorgnis erregt.

Schön, welcher die Stimmung in Berlin sehr verändert und es unter seiner Würde fand, die in Betreff seiner durch Rochow und andere ausgesprengten Gerüchte eines seinerseitigen zweideutigen und unwahren Benehmens gegen den König (in Betreff unseres Landtags-Antrags) auch nur zu widerlegen, bat nach Beendigung eines ihm aufgetragenen besonderen Geschäftes um die Erlaubnis nach Königsberg zurückkehren zu dürfen, die ihm erteilt wurde. Infolge dessen hielt er hier bei mir den 22. d. noch einen Ruhetag und trat den 23. seine weitere Rückreise von hier an. Zuvor scheint der König ihm noch den Wunsch geäußert zu haben, dass er in Berlin bleiben und ein besonders zu bildendes Handelsministerium übernehmen möge, was er jedoch abgelehnt hat, weil er nicht glaubte, in der jetzigen Gesellschaft ihm und dem Lande nützen, vielmehr besorgen müsste, eher schaden zu können, insofern durch seine Anwesenheit im Ministerium nur schädliche Reaktionen hervorgerufen werden dürften. Er hat übrigens für Preußen und auch für Marienburg manches erlangt (vielleicht um auch ihn zufriedenzustellen), dessen Ausführung ihn nun beschäftigen wird. Mir sagte der König den Abend vor unserer Abreise hierher, dass ihm seine so baldige Abreise ungemein leid tue, worauf ich natürlich nichts zu erwidern hatte.

Du wirst nun auch wohl schon von den Reden Kenntnis erhalten haben, die bei der hiesigen Huldigung gehalten worden sind. Der König besitzt in dieser Beziehung wirklich ein außerordentliches Talent und Humboldt meinte, es sei ihm noch nie eine solche Kühnheit im freien Reden vorgekommen. Die Wirkung dieser Reden ist umso größer, als der verstorbene König gar nicht sprechen konnte. Jedoch scheint mir die Königsberger Rede das Ergebnis des Augenblicks gewesen zu sein, wie der König Tages darauf der Deputation des Landtags, zu der ich gehörte, selbst sagte, dass ihn die Macht der Empfindung und die Feierlichkeit des Momentes fortgerissen habe. Der dortige Akt war übrigens auch unendlich feierlicher wie der in Berlin, wenngleich auch nicht mit solcher Pracht ausgestattet. Es gab dort wirklich viel erhebendere Momente, und es ist mir dort recht empfindlich gewesen, dass Du gerade in dieser Zeit fern vom Vaterland warst, wo es Eindrücke für das ganze Leben gab, und die moralische Macht des zwischen Fürsten und Volk bestehenden Bandes einmal wieder recht klar wurde. Hierzu kam das wichtige Moment des Landtages, der einmal wieder die Charaktere recht deutlich unterscheiden ließ und dessen aus seltener Übereinstimmung hervorgegangener Antrag die Veranlassung gab, dass alle Schwachköpfe und Scheißkerle in und außerhalb des Landtages im Lande auftauchten und diesem bemerkbar wurden.

Es ist wohl ziemlich allgemein aufgefallen, dass nicht ich, sondern der äußerst konfuse und schwache Lehndorff zum Landtagsmarschall ernannt worden, der sich dabei denn auch auf das äußerste kompromittiert hat. Aber es ist der Sache und mir von großem Ruhm gewesen. Denn so konnte ich mich freier bewegen und dem Ausschuss präsidieren, der die wichtigste Frage zu bearbeiten und den in Bellschwitz und Plauthen längst vorbereiteten wichtigen Antrag zu begutachten und dem Landtage vorzulegen und zu empfehlen hatte, und es ist für mich und  Alfred von Auerswald
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Alfred
, den ich als Präses zum Referenten erwählte, allerdings eine große Genugtuung gewesen, die Sache gerade so durchführen zu können, wie wir es uns vorgenommen hatten, wobei wir ganz besonders und auf eine sehr ausgezeichnete Weise von  Rudolph von Auerswald
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Rudolph A.
unterstützt wurden, dem ich seines ebenso klugen als charaktervollen Benehmens wegen gerne meine hohe Achtung zolle. Es gehört übrigens kein besonderer Mut dazu, da uns das Gesetz zur Seite stand und wir uns nicht außerhalb der gesetzlichen Schranken bewegt haben. Uns ist aber doch von der großen Majorität im Lande und auch hier von allen Wohlgesinnten dafür große Anerkennung geworden, während wir es uns gefallen lassen müssen, von der anderen Seite als die eigentlichen Sündenböcke bezeichnet zu sein und uns den höchsten Unwillen des Prinzen, des Herrn von Rochow und der Hof- und gleichgesinnten Leute zugezogen zu haben. Dir hinterlasse ich so wenigstens einen guten Namen, und der König sagte unserer Deputation mündlich, dass er unsere Gesinnung und unser gutes Recht nicht einen Augenblick verkannt habe, und wenn er auch gegen geschriebene Konstitutionen, so doch für weitere Entwicklung sei und keineswegs ohne Stände regieren wolle.

Abgesehen von den Intrigen, die unser Antrag unmittelbar hervorrief, und die, wenn es nach Lehndorff gegangen wäre (den wir eigentlich über den Gänsedreck geführt hatten und der nachher gewaltig erschrak), manchen zum Wanken gebracht hätten, haben wir nachher aber viel zu kämpfen gehabt gegen vielfache Entstellungen, welche der Landtag und dessen Antrag mit und ohne Absicht in den Berichten der öffentlichen Blätter erfahren musste,  Siehe das Dokument vom 18. September 1843.
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insbesondere in der Leipziger Zeitung, für die auch Rochow Artikel liefert, und auch in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, der von dem wohlmeinenden, aber dummen und schlecht unterrichtetem mit ☉ bezeichneten Korrespondenten aus Ostpreußen Berichte zugekommen sind.
Ich bin daher auch genötigt worden, mehrere Berichtigungen dieser Artikel, teils von mir selbst, teils von Alfred verfasst, den beiden Zeitungsredaktionen zur Insertion zu überschicken, die aber meistenteils nur in der Leipziger Eingang gefunden zu haben scheinen und durch die wir denn wohl die Gegner zur Ruhe gebracht haben werden. Besonders gelungen und wichtig ist unter diesen noch ein kürzlich  ‟Der preußische Landtag‟, datiert aus Königsberg, 11. Oktober 1840, in: Leipziger Allgemeine Zeitung, Beilage zu Nr. 295, 21. Oktober 1840.
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in der Leipziger Zeitung erschienener Artikel
, der wahrscheinlich von Rudolf A. eingeschickt ist, der als der Schlussstein zu betrachten ist und alle Intrigue zum Schweigen bringen dürfte. Ich schicke ihn an Humboldt, damit er auch in Sanssouci bekannt und gelesen werde, der übrigens an eine Reise nach Paris noch nicht gedacht hat, wie doch die Allgemeine Zeitung glauben machen will. Jedenfalls ist es gut, dass über die Sache so vieles geschrieben wird und die Verfassungsfrage von uns angeregt ist. Deine Aufforderung, das Land gehörig zu vertreten, haben wir nicht abgewartet, sie kam zu spät, nach schon geschehener Sache.

Nun aber genug von unseren öffentlichen Angelegenheiten. … Aus dem, was in Königsberg vorgegangen ist, wirst Du Dich doch auch wohl überzeugen müssen, dass man sich auch bei uns als Gutsbesitzer und Landstand eine interessante Stellung und einen nicht zu verachtenden Wirkungskreis schaffen kann. Und unfehlbar wird sich die Wirksamkeit der Stände sehr bald vermehren müssen. Wir in Preußen werden nicht nachlassen. Gebe es nur viele solche Leute im Lande, wie  Alfred, Rudolph und Hans Adolf von Auerswald
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die 3 Auerswalde
, die sehr an Popularität gewonnen haben. Aber auch Fabian Dohna und der Laucker und Wesselshöfer haben sich vortrefflich benommen. Des ersteren gediegener Kern trat einmal wieder recht glänzend hervor, und sein Sohn Roderich hat sich ungemein formiert, ist als ein sehr netter und verständiger Mensch von Bonn zurückgekehrt um nun Landwirtschaft zu studieren.

Ich muss Dich noch darauf aufmerksam machen, dass die in der Allgemeinen Zeitung enthaltenen Andeutungen, als habe der Adel auf dem Landtage vorzugsweise den Antrag befördert und die desfallsigen Bedenken der anderen Stände zu besiegen gehabt, falsch ist. Diese Stände haben gar keine Bedenken gehabt, und  Diese fünf Gegner, von denen sich drei durch ihre Loyalitätsadresse an den König von Hannover einen Namen gemacht hatten, brachten in aller Eile mit Hilfe von Gesinnungsgenossen, die in Königsberg anwesend waren, eine Gegenadresse zustande (Königsberg, 8. September 1840), die die Unterschrift von 27 west- und ostpreußischen Adligen trägt, abgedruckt in: Natzmer, Gneomar Ernst von, Unter den Hohenzollern. Denkwürdigkeiten aus dem Leben des Generals Oldwig von Natzmer, Gotha 1888, Bd. 3, S. 227 f. In welcher Hast dieser Schritt erfolgte, zeigt sich daran, dass auch mehrere Abgeordnete, die dem Antrag zugestimmt hatten, diese Gegenadresse unterzeichneten.
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die einzigen 5 Gegner waren gerade vom Adel und ihre Namen endigten sämtlich mit einem ky.
Dennoch traten mehrere Bürgerliche an mich und Bardeleben und den Auerswald 1, nachdem der Beschluss gewonnen war, heran, und sagten zu uns: „nun sehen wir doch, dass wir einen Adel haben.‟

Zitierhinweis

Magnus von Brünneck an seinen Sohn Siegfried. Trebnitz, 28. Oktober 1840. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail.xql?id=lehndorff_zbl_wrn_fz