Ich gehe morgens im Garten des Prinzen Heinrich spazieren und trinke dabei mein Selterswaser. Man freut sich immer, an einem Ort weilen zu können, wo man sich wohl fühlt, man verlässt ihn immer mit Befriedigung. Ich hatte wohl gedacht, dass dies angenehme Leben immer dauern würde, aber alles ist unbeständig. Es scheint, dass das Glück absichtlich dieselben Dinge einen verschiedenen Ausgang nehmen lässt, um die menschliche Vernunft zu verspotten, die keine feste Regel anzustellen vermag. Ich hatte gedacht, es könnte gar nicht anders kommen, als dass ich immer mit dem Prinzen zusammen bliebe. Mein ganzes Sinnen war auf ihn gerichtet. Ich tat, was man tun muss, wenn man sich an jemand anschließt; ich liebte ihn wahrhaft. Der Ausgang hat meiner Erwartung nicht entsprochen; ich sehe mich von ihm getrennt, vielleicht auf immer. Die Folge wird sein, dass ich fortan meine Herzensruhe nur in mir selbst suche; das bewahrt uns vor den Leiden, welche die Anhänglichkeit an die Großen immer zur Folge hat. Die Natur bietet uns bescheidene, einfache, ruhige Freuden, die jedermann finden kann, aber unser unersättlicher Ehrgeiz, unsere Eitelkeit, die immer nach Auszeichnungen strebt, lässt uns immer unerreichbare, trügerische, schwer zu erlangende Freuden suchen. Und das ist der Urgrund unserer Leiden und Schmerzen.

Zitierhinweis

Tagebucheintrag von Ernst Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorff. Berlin, 9. Juni 1753. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail_doc.xql?id=lehndorff_ysl_nxd_ndb